Mittwoch, 11. Mai 2011

Über die Kulturontologie

Die mit der Behauptung, „Geistiges von Rang“ fände keinen Raum im grenzenlosen Internet, einhergehende, wenn auch keineswegs intendierte Anmaßung einer übergeordneten Urteilsposition bedarf freilich einer Rechtfertigung, denn „außergewöhnliche Aussagen verlangen außergewöhnliche Beweise“. Zweifelsohne ließe sich eine konservative, ja geradezu reaktionäre Haltung in sie hineinlesen, doch verfehlte dieses Ansinnen ihren Kern nicht nur, es widerspräche ihm geradezu diametral. Ganz im Gegenteil richtet sich der Blick nicht zurück, in eine vermeintlich wohlgeordnetere Vergangenheit, sondern – was im Folgenden verdeutlicht werden soll – nach vorn, einer offenen Zukunft entgegen.

Dabei rührt die Denunziation der angemaßten Urteilskraft durchaus an eine substanzielle Grundlage, verweist sie doch auf einen zugrunde liegenden, prinzipiell unauflösbaren Konflikt zwischen bewahrenden und kreativen Kräften. Erstere übernahmen, meist vermögens gesellschaftlich-kultureller, zuweilen auch ökonomischer Situiertheit Verantwortung für die Kulturgüter der Vergangenheit und sicherten auf diese Weise gleichermaßen ihren Bestand und ihre Verfügbarkeit – im Kleinen durch persönliches Engagement, im Großen durch gesellschaftlichen Auftrag. Damit einher ging notwendigerweise die Deutungshoheit hinsichtlich der Bewertungsmaßstäbe: was in welchem Maß einer Erhaltung wert sei, wurde durch sie bestimmt. Ausschließlich Werke, die in einer von den bewahrenden Kräften entwickelten Kulturontologie ihre Platz fanden, wurde ein Anrecht auf Persistenz eingeräumt. Diese Ontologie, deren Entwicklung sorgfältige, wenngleich auch oft konfliktgeladene Prüfprozesse voraussetzte, schuf Ordnung in einer unübersichtlichen Kulturlandschaft.

Auf der anderen Seite stehen die kreativ Schaffenden, die den Bruch mit der Kulturontologie bewusst oder unbewusst provozieren oder gar herbeiführen, gleichwohl sie durchaus nicht ontologisch verorteter Traditionen entbehren. Ihr Streben reicht nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, Bestehendes suchen sie zu transzendieren. Notwendig brechen sie mit Regeln des Überkommenen und setzen sich damit in unmittelbaren Widerspruch zu den Bewahrern, die allzuoft mit Abstoßung oder Ignoranz auf derartige Bestrebungen reagieren. Die Ontologie, die von kreativer Seite im gleichen Verhältnis zur Kreativitätsleistung belastet wird, ist ihnen sakrosankt. Doch so vehement die spezifische überkommene Ontologie seitens der Schaffenden Kritik erfährt, so wenig wird sie von diesen an sich infrage gestellt. Ihre Existenz wird auch von vielen Kulturschaffenden noch stets als conditio sine qua non dem kreativen Prozesses voraus gesetzt. Gleichwohl verschärft ihre grundsätzliche Akzeptanz den ohnehin bestehenden Konflikt zwischen bewahrendem und schaffendem Lager, indem Friktionen zu Tage treten, die sich in der Auseinandersetzung über die zukünftige Ausgestaltung zumindest von Teilen der Kulturontologie ergeben. Seine Spitze erreicht der Konflikts schließlich durch zahllose Bündnisse zwischen den Lagern, die den Mangel jeglicher Geschlossenheit auf beiden Seiten unterstreichen.

Die Kühnheit, wenn nicht gar Tollkühnheit, Geistiges gemäß seines Ranges differenzieren zu wollen, führt also unmittelbar in eine höchst unübersichtliche Landschaft von Gefechtslinien. Sie zu betreten erfolgt stets um den Preis der potenziellen Vernichtung, d.h. der Lächerlichkeit. Und tatsächlich findet die These, Geistiges von Rang fände im Internet keinen Raum, ihren Bezugspunkt weniger innerhalb der Kulturontologie als in deren sukzessiver Abrogation...