Sonntag, 17. April 2011

Einzug

Die Dachkammer ist heute ein nahezu in Vergessenheit geratener Ort. Bis in das zwanzigste Jahrhundert hinein war es die Unterkunft der Dienstboten, der armen Studenten und glücklosen Künstler und Schriftsteller. Sie fristeten ihr kümmerliches Dasein in den zugigen Mansarden der Stadthäuser. Billig und karg war die Ausstattung, kaum ein Schatten des Luxus, den sich die Herrschaft in den Stockwerken darunter leistete. Spitzwegs bekanntes Bild illustriert trefflich die missliche Lage, in der sich mancher Dachkammerbewohner befunden haben mochte.


Doch so unbehaglich das Leben unterm Dach einst war: es barg auch manchen Lohn. Hoch über den Straßen der Stadt bot die Dachkammer einen Ort der Freiheit. Ein Refugium, das, allen Widrigkeiten zum Trotz, half Distanz zu gewinnen vom profanen Allerlei des Alltagsgeschäfts, und Raum schuf für den schöpferischen Geist, der im Trubel der Masse unterzugehen drohte. Die Dachkammer war eine Ausnahme von der Stadt, ein urbanes Bergerlebnis, das keine Behaglichkeit bot, sondern harte Arbeit voraussetzte, deren Entschädigung sich fand in einem unverstellten Blick und frischer Luft.

Die Zeiten haben sich gewandelt. Längst schon erfuhren die ehemals billigen Unterkünfte eine Aufwertung, wurden zu begehrten Luxusimmobilien, die Luft und Sonne den Begüterten bieten, die sich im Zeitalter des Automobils gern der lärmenden Schmutzzone entheben. Die Dachkammern mit ihrem herben Charme sind verschwunden – und mit ihnen, so scheint es, der tiefe Geist, der der urbanen Betriebsamkeit flieht.

Gleichwohl – mit den Zeiten änderte sich auch die Lebenswelt und das Internet ergänzte die Realität ins Virtuelle hinein. Das globale Dorf mauserte sich zu einer Stadt, deren niemals ruhende Hektik ein ums andere Mal vom jeweils neusten Dienst überboten wird. Die letzten haben gerade erst das Verfassen von E-Mails erlernt, da twittert längst schon die digitale Avantgarde und wartet fiebernd auf the next big thing.

Einhalt und Muße, diese abgelegten, aus der Mode geratenen Konzepte der analogen Ära, schmecken heute nur den Wenigsten. Das Internet – Ort der eigentlich unbegrenzten Möglichkeiten – scheint hierfür taub und blind. Und so kommt es, dass dem interessiert Suchenden der Eindruck sich aufdrängt, Geistiges von Rang, aller philosophischen Seiten zum Trotz, sei auch an dieser Stelle nicht zu finden. Doch nicht nur dies: es keimt der Verdacht, das Medium selbst zeitigte ungünstige Wirkung auf die geistige Tiefenentwicklung.

Hier lohnt der Schritt zurück, verspricht Aufklärung einzig Distanz ohne Abstinenz; es bedarf eines Raums, der Zurückgezogenheit erlaubt, bei gleichzeitiger Inklusion. Es bedarf einer digitalen Dachkammer.